4A_85/2020: Verhandlungssäumnis der Beklagten bei unbegründeter Klageeinreichung im vereinfachten Verfahren

Gegenstand des zur amtlichen Publikation vorgesehen bundesgerichtlichen Urteils BGer 4A_85/2020 (publiziert am 7. Juli 2020) bildete die Frage, wie vorzugehen ist, wenn die klägerische Partei im vereinfachten Verfahren eine unbegründete Klage einreicht und die beklagte Partei daraufhin zur Verhandlung nach Art. 245 Abs. 1 ZPO nicht erscheint.


Kurzantwort

Es werden zur vorerwähnten Fragen zwei Auffassungen vertreten. (1) Nach der einen Meinung ist in dieser Situation Art. 234 Abs. 1 ZPO anzuwenden. Das Gericht hat demnach die Verhandlung durchzuführen und seinem Entscheid unter Vorbehalt von Art. 153 ZPO (Beweiserhebung von Amtes wegen) die Akten sowie die Vorbringen der anwesenden Partei zu Grunde legen. (2) Nach der anderen Meinung kommt Art. 223 Abs. 1 ZPO analog zur Anwendung, weshalb bei unentschuldigter Abwesenheit der beklagten Partei an der mündlichen Verhandlung ein zweites Mal vorzuladen sei.

Das Bundesgericht verweist namentlich auf das Ziel der Prozessbeschleunigung im vereinfachten Verfahren. Die Vorladung zu einer neuen  mündlichen Verhandlung hätte im Gegensatz zur Nachfrist für eine  schriftliche Eingabe eine Verfahrensverzögerung und erhebliche Aufwände für das Gericht und die Gegenpartei zur Folge, weshalb eine erneute Vorladung dem Sinn und Zweck des vereinfachten Verfahrens widersprechen würde. Des Weiteren kann auch von einer rechtsunkundigen und nicht anwaltlich vertretenen Partei ohne Weiteres erwartet werden, dass sie der Vorladung zu einem Gerichtstermin Folge leistet.

Das Bundesgericht schloss sich infolgedessen der erstgenannten Auffassung an, wonach Art. 234 Abs. 1 ZPO Anwendung findet. Das Gericht hat demnach die Verhandlung durchzuführen und seinem Entscheid unter Vorbehalt von Art. 153 ZPO die Akten sowie die Vorbringen der anwesenden Partei zu Grunde zu legen.


Sachverhalt

B. (Beschwerdegegner) leitete im August 2018 wegen einer Schadenersatzforderung ein Schlichtungsverfahren vor der Mieterschlichtungsstelle AachThurLand gegen seine Vermieterin A. GmbH (Beschwerdeführerin) ein. Da die A. GmbH nicht zur Schlichtungsverhandlung erschient, stellte die Mietschlichtungsstelle B. die Klagebewilligung aus.

Am 14. November 2018 erhob B. beim Bezirksgericht Weinfelden Klage im vereinfachten Verfahren über Fr. 10’040.35 zuzüglich Zins. Dabei verwendete er ein Formular gemäss Art. 400 Abs. 2 ZPO, wobei er unter „Rechtsbegehren“ vermerkte: „ich bin im Recht, da es sich um einen Baufehler handelt. Durch diesen Baufehler wurden meine persönlichen Gegenstände im Kellerraum verschimmelt“.

Der Einzelrichter des Bezirksgerichts lud die Parteien mit Schreiben vom 14. Dezember 2018 „zur Hauptverhandlung“ vor. In der Vorladung war unter anderem der Wortlaut von Art. 147 und Art. 234 ZPO wiedergegeben. Zur Verhandlung erschien lediglich B., wogegen die A. GmbH unentschuldigt fernblieb. Am 15. März 2019 fällte der Einzelrichter unter Verweis auf Art. 234 Abs. 1 ZPO und gestützt auf die Akten sowie die Vorbringen von B. einen Entscheid in der Sache. Ausgehend von einem Schaden von total Fr. 12’767.15 und unter Berücksichtigung der von B. anlässlich der Hauptverhandlung anerkannten ausstehenden zwei Monatsmieten von je Fr. 1’800.00 verurteilte er die A. GmbH zur Zahlung eines Betrages von Fr. 9’167.15. Im Übrigen wies er die Klage ab.

Diesen Entscheid focht die A. GmbH mit Berufung beim Obergericht des Kantons Thurgau an, wobei sie eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs rügte. Mit Entscheid vom 19. Dezember 2019 beurteilte das Obergericht die Berufung als unbegründet.

Die A. GmbH verlangt mit Beschwerde in Zivilsachen, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und die Klage von B. sei abzuweisen.


Erwägungen

Das Bundesgericht hielt zunächst fest, dass es bisher nicht entschieden hatte, wie bei Säumnis der beklagten Partei an der Verhandlung nach Art. 245 Abs. 1 ZPO vorzugehen ist, und es sich dabei um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handelt (E. 1).

Im vereinfachten Verfahren muss die Klage im Zeitpunkt der Einreichung nicht begründet werden (Art. 244 Abs. 2 ZPO). Enthält sie wie vorliegend keine den Anforderungen von Art. 221 ZPO genügende Begründung, so stellt das Gericht sie nach Art. 245 Abs. 1 ZPO der beklagten Partei zu und lädt die Parteien zugleich zur Verhandlung vor . Wie vorzugehen ist, wenn die beklagte Partei nicht zur Verhandlung erscheint, sagt das Gesetz nicht ausdrücklich. Zu beachten ist immerhin Art. 219 ZPO, laut dem die Bestimmungen zum ordentlichen Verfahren sinngemäss für sämtliche anderen Verfahren gelten, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt (E. 2).

Zu dieser Fragen werden zwei unterschiedliche Auffassungen vertreten:

  • Nach der einen Meinung ist in dieser Situation Art. 234 Abs. 1 ZPO anzuwenden. Gemäss dieser Bestimmung berücksichtigt das Gericht bei Säumnis einer Partei an der Hauptverhandlung die Eingaben, die nach Massgabe der Zivilprozessordnung eingereicht worden sind. Im Übrigen kann es seinem Entscheid unter Vorbehalt von Art. 153 ZPO (Beweiserhebung von Amtes wegen) die Akten sowie die Vorbringen der anwesenden Partei zu Grunde legen. Die Vorinstanz hat sich dieser Auffassung angeschlossen und das Vorgehen des Einzelrichters gemäss Art. 234 Abs. 1 ZPO geschützt.
  • Ein anderer Teil der Lehre spricht sich für eine analoge Anwendung von Art. 223 Abs. 1 ZPO aus, gemäss dem das Gericht bei versäumter Klageantwort der beklagten Partei eine kurze Nachfrist setzt. Auf das vereinfachte Verfahren übertragen bedeute dies, dass bei unentschuldigter Abwesenheit der beklagten Partei an der mündlichen Verhandlung ein zweites Mal vorzuladen sei

Das Bundesgericht schloss sich in seinem Entscheid der erstgenannten Auffassung an. Das Bezirksgericht hat die ZPO richtig angewendet, wenn es die Verhandlung vom 13. März 2019 in Abwesenheit der säumigen Beschwerdeführerin durchführte (E. 2.7).

Als Begründung führte das Bundesgericht an, dass der Gesetzgeber mit dem vereinfachten Verfahren  einen gegenüber dem ordentlichen Verfahren beschleunigten Rechtsweg schaffen wollte. Dieser Vorgabe liefe es offensichtlich zuwider, wenn bei unentschuldigtem Nichterscheinen der beklagten Partei zur Verhandlung nach Art. 245 Abs. 1 ZPO neu vorgeladen werden müsste. Dagegen trägt es zur angestrebten Verfahrensbeschleunigung bei, wenn in diesem Fall direkt die Säumnisfolgen eintreten, zumal diese durch die Regeln zur Feststellung des Sachverhalts gemäss Art. 247 ZPO gemildert werden (E. 2.4).

Der Schutz der schwächeren Partei gebietet ferner nicht, dass bei Säumnis eine erneute Vorladung zu erfolgen hat. Auch von einer rechtsunkundigen und nicht anwaltlich vertretenen Partei kann ohne Weiteres erwartet werden, dass sie der Vorladung zu einem Gerichtstermin Folge leistet, jedenfalls, wenn ihr diese rechtzeitig (Art. 134 ZPO) und in vorgeschriebener Form (Art. 138 ZPO) zugestellt wird (E. 2.5).

Auch aus der Tatsache, dass die beklagte Partei im vereinfachten Verfahren an der Verhandlung nach Art. 245 Abs. 1 ZPO zum ersten Mal überhaupt Gelegenheit zur Äusserung erhalte, lässt sich nichts Abweichendes ableiten. So hat das Bundesgericht in seiner publizierten Rechtsprechung entschieden, dass dem Betriebenen bei versäumter Stellungnahme zum Rechtsöffnungsbegehren keine Nachfrist anzusetzen ist. Zur Begründung erwog es, die im Gesetz vorgesehene Beschleunigung des Rechtsöffnungsverfahrens bedinge, die Rechte des Gesuchsgegners in dieser Situation enger zu fassen als im ordentlichen Zivilverfahren und daher Art. 223 ZPO in diesem summarischen Verfahren nicht anzuwenden (BGE 138 III 483 E. 3.2). Entsprechendes muss auch für den hier zu beurteilenden Fall gelten. Wohl geht dem Ziel der Prozessbeschleunigung im vereinfachten Verfahren die spezifisch zwangsvollstreckungsrechtliche Bedeutung ab, die ihm im Rechtsöffnungsverfahren zukommt. Indessen weist die Vorinstanz mit Recht darauf hin, dass die Vorladung zu einer neuen  mündlichen Verhandlung im Gegensatz zur Nachfrist für eine  schriftliche Eingabe nicht nur eine Verfahrensverzögerung zur Folge hat, sondern auch bedeutet, dass das Gericht einen weiteren Termin festlegen und freihalten muss und auch die anwesende Partei erneut vor Gericht zu erscheinen hat. Dass aber eine Partei dem Gericht und der Gegenpartei durch ihre Säumnis solchen Aufwand verursachen kann, widerspricht Sinn und Zweck des vereinfachten Verfahrens (E. 2.6).

Aus den vorerwähnten Gründen ist die Beschwerde abzuweisen (E. 3).

Das Urteil ist zur amtlichen Publikation vorgesehen.